EU-Fluggastrechte unter Druck – und mit ihnen der Schutz der Nacht

Wie die Luftverkehrslobby versucht, Nachtflugbeschränkungen auszuhöhlen

Die Europäische Union plant eine Reform der Fluggastrechteverordnung (EG Nr. 261/2004), die tiefgreifende Folgen hätte – nicht nur für Verbraucher*innen, sondern auch für den Schutz der Nachtruhe. Während viele Debatten auf die finanziellen Ansprüche der Fluggäste fokussieren, wird eine zentrale Folge bislang kaum beleuchtet: Die geplante Aufweichung der Entschädigungsregeln droht, bestehende Nachtflugbeschränkungen zu unterlaufen.

Der neue Freifahrtschein für Verspätungen

Im Kern der Reform steht die Anhebung der Schwellenwerte für Entschädigungen. Künftig sollen Passagiere erst ab fünf (statt bisher drei) Stunden Verspätung einen Anspruch auf Ausgleichszahlungen erhalten. Der BDL – Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft e. V. – als Stimme der Luftverkehrswirtschaft – unterstützt diesen Vorstoß ausdrücklich. BDL-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang argumentiert, die Airlines könnten dann häufiger Ersatzflugzeuge stellen, ohne sich dem „Strafzahlungsdruck“ auszusetzen. Die Aussage ist bezeichnend: Weniger ökonomischer Druck heißt für die Airlines mehr Spielraum – und das bedeutet auch mehr Flüge in die Nacht hinein.

Nachtflugbeschränkungen verlieren ihre Wirkung

Bisher stellen Entschädigungszahlungen einen wirksamen Hebel dar, damit Airlines bei drohenden Verspätungen in die Nacht hinein entweder Flüge annullieren oder früher reagieren. Gerade Flughäfen mit späten Betriebsgrenzen – wie Hamburg oder Berlin – profitieren von diesem indirekten Druck. Wird dieser Druck nun systematisch reduziert, verliert die Verspätungsregelung an Steuerungswirkung.

Anders gesagt: Airlines können abends gelassener mit Verzögerungen umgehen – denn die Aussicht auf teure Entschädigungen schrumpft. Das trifft besonders die vom Fluglärm betroffenen Regionen, die ohnehin stark unter Abend- und Nachtflügen leiden.

Verbraucherschutz? Lärmschutz? Fehlanzeige.

Während Luftfahrtlobbyisten ihre Argumente als „kundenfreundlich“ präsentieren – „Die Leute wollen heim, nicht Geld“ –, sprechen die Fakten eine andere Sprache:

  • Rund 80 Prozent der heutigen Entschädigungsansprüche würden durch die neue Regelung entfallen.
  • Statt gezielter Verlässlichkeit würde das System mehr Willkür und weniger Planbarkeit erzeugen.
  • Und das bedeutet: mehr Starts und Landungen in der sensiblen Nachtzeit – mit gravierenden Folgen für Gesundheit, Schlaf und Lebensqualität der Betroffenen.

Ein gefährlicher Dammbruch

Die Fluggastrechteverordnung war bislang eine der wenigen regulativen Stellschrauben, um Airlines zu Disziplin zu bewegen. Ihre Aufweichung trifft nicht nur Passagiere – sie konterkariert auch lokale Lärmschutzregeln und gefährdet bestehende Nachtflugbeschränkungen in ganz Europa.

Der BDL nutzt die Reform als Hebel, um sich vom letzten Rest rechtlicher Verantwortung zu befreien. Die Interessen der Bevölkerung? Offenbar verhandelbar.

Gesundheitliche Risiken durch Nachtflüge

Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen: Regelmäßiger nächtlicher Fluglärm kann zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor erhöhtem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Schlafstörungen und psychischen Belastungen. Besonders problematisch ist der sogenannte Spätabendverkehr zwischen 22 und 24 Uhr, weil er die Einschlafphase stört – selbst wenn gesetzlich noch keine Nachtruhe gilt. Gerade in dieser Zeit drohen künftig vermehrt Verspätungen, wenn der ökonomische Druck auf Airlines sinkt.

Beispiel Hamburg: Wenn Schutz zur Theorie wird

Am Flughafen Hamburg gilt formal ein Nachtflugverbot ab 23 Uhr – mit Ausnahmen für Verspätungen bis 24 Uhr. Schon heute wird diese Regelung regelmäßig überschritten. Die geplante EU-Reform könnte diese Praxis faktisch zementieren: Wenn Airlines wirtschaftlich nicht mehr gezwungen sind, Verspätungen zu vermeiden, wird das Fenster in die Nacht weiter ausgedehnt. Die Folge: Tausende Menschen im Hamburger Norden, in Schleswig-Holstein und Teilen Niedersachsens wären noch häufiger betroffen. Und das, obwohl der Flughafen offiziell als „stadtverträglich“ beworben wird.

Lobbydruck statt Gemeinwohl

Dass der BDL diesen Reformvorschlag ausdrücklich begrüßt, macht die Stoßrichtung deutlich: Es geht nicht um besseren Service, sondern um geringere Kosten für Fluggesellschaften. Dass dabei gezielt auch Schutzrechte der Bevölkerung ausgehöhlt werden, wird in Kauf genommen. Der politische Schulterschluss zwischen EU-Kommission und Luftfahrtlobby zeigt, wie einseitig die Interessen gewichtet werden – auf Kosten derjenigen, die keine Stimme in Brüssel haben: der betroffenen Bevölkerung unter den Flugrouten.

Forderungen aus Sicht des Lärmschutzes

Eine Reform der Fluggastrechte darf nicht gegen die Interessen der Bevölkerung ausgespielt werden. Statt Entschädigungen abzuschaffen, braucht es:

  • eine Stärkung der Passagierrechte bei Abendflügen,
  • verbindliche Lenkungswirkungen zur Vermeidung von Nachtflügen,
  • klare Regeln zur Verlagerung von Kurzstrecken auf die Schiene,
  • und eine konsequente Durchsetzung bestehender Nachtflugbeschränkungen.

Der Schutz der Nachtruhe ist kein Nebenschauplatz – er ist Grundvoraussetzung für Gesundheit, Lebensqualität und Vertrauen in die Politik.