Zehn Jahre Allianz für den Fluglärmschutz – zwischen Anspruch und Rechtsverfall

Ein Rückblick mit bitterem Beigeschmack

Am 7. Juli 2015 trat in Hamburg ein neues Beteiligungsformat an die Öffentlichkeit: die „Allianz für den Fluglärmschutz“. Was sich zunächst wie ein Aufbruch anfühlte, war politisch ambitioniert und gesellschaftlich breit getragen. Über 40 Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung, Flughafenbetrieb, Bürgerinitiativen und Umweltverbänden saßen damals an einem Tisch. Die Hoffnung: eine neue Qualität des Dialogs – verbindlich, transparent, lösungsorientiert. Man versprach Fortschritte beim Schutz der Nachtruhe und eine moderne Beteiligungskultur im Umgang mit den Belastungen des Luftverkehrs.

Zehn Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus – und das nicht nur aus Sicht der Betroffenen. Die Allianz existiert noch, ja, sie tagt auch noch. Aber ihre politische Relevanz tendiert gegen Null. Das Format ist entkernt, seine Wirkung praktisch erloschen. Während sich der Flughafen Hamburg regelmäßig mit betriebswirtschaftlichen Erfolgszahlen und PR-Auszeichnungen schmückt, verschärft sich die nächtliche Belastung für die Bevölkerung. Die zentrale Schutzregel – die Verspätungsregelung zwischen 23 und 24 Uhr – ist ausgehöhlt, entwertet, entgrenzt. Der Fluglärmschutz ist nicht mehr handlungsfähig, sondern administrativ stillgelegt.

Wenn Behörden nicht mehr kontrollieren – und Politik nicht mehr reagiert

Besonders dramatisch ist der Fall der Verspätungsregelung. Was einst als eng gefasste Ausnahmeregel konzipiert war, um „nachweisbar unvermeidbare“ Flugbewegungen nach 23 Uhr zu ermöglichen, hat sich in der Praxis in ein faktisch genehmigungsfreies Nachtflugfenster verwandelt. Geregelt ist diese Ausnahme im Luftfahrthandbuch (AIP), juristisch basiert sie auf § 6 LuftVG und wird ergänzt durch die Betriebsgenehmigung des Flughafens. Doch all diese rechtlichen Sicherungen greifen nicht mehr.

Denn: Die Umweltbehörde Hamburg, zuständig für die Kontrolle der Einhaltung dieser Regelung, hat ihre Kontrollfunktion aufgegeben. In einem Schreiben vom 22. Juni 2025 an Staatsrätin Dr. Stefanie von Berg dokumentierte der Umweltverband BIG Fluglärm detailliert, dass Nachweise der Unvermeidbarkeit in der Praxis nicht mehr eingefordert, geschweige denn geprüft werden. Die Airlines melden – wenn überhaupt – eine Verspätung und dürfen fliegen. Diese lückenhafte Selbstauskunft ersetzt die Kontrolle, das Prinzip der Ausnahme wird zur Regel.

Rechtlich ist dieser Zustand nicht nur problematisch, sondern gefährlich. Denn die Genehmigungsfiktion, auf der das Modell beruht, gilt nur unter der aufschiebenden Bedingung eines belastbaren Nachweises. Wird dieser nicht erbracht, liegt keine gültige Ausnahmegenehmigung vor. Der Betrieb erfolgt dann ohne Rechtsgrundlage – de jure rechtswidrig. Und dennoch wird er geduldet.

Gleichzeitig werden Auskunftsanträge nach dem Umweltinformationsgesetz (UIG) oder dem Hamburgischen Transparenzgesetz (HmbTG) regelmäßig abgeschmettert oder auf nichtssagende Antworten reduziert. Das ist nicht nur demokratietheoretisch bedenklich, sondern auch ein strukturelles Behördenversagen, das den Eindruck erweckt: Schutzrechte gelten nur, solange sie wirtschaftlich nicht stören.

Hinzu kommt, dass bereits im Vorfeld das ursprünglich in Hamburg eingeführte Sanktionsregime durch die Umweltbehörde ohne jede erkennbare Rechtsgrundlage eingestellt wurde. Die Zulässigkeit dieses Verzichts ist mehr als fragwürdig – denn § 58 Luftverkehrsgesetz (LuftVG) ist Bundesrecht und damit für die Länder verbindlich.

Man stelle sich vor, eine Straßenverkehrsbehörde würde eigenmächtig beschließen, Geschwindigkeitskontrollen einzustellen und Bußgeldverfahren auszusetzen – mit dem Hinweis, man wolle den Verkehrsfluss nicht unnötig belasten. Genau dies geschieht derzeit im Luftverkehr: Statt Verkehrsdisziplin zu sichern, verzichtet die Umweltbehörde auf Kontrolle und Sanktion – zugunsten eines reibungslosen Betriebs. Was auf der Straße ein Skandal wäre, gilt am Himmel offenbar als Standortpolitik.

Ein landesseitiger Verzicht auf Durchsetzung von der Norm greift nicht nur in den föderalen Kompetenzrahmen ein, sondern untergräbt grundlegende Prinzipien des Rechtsstaats. Wer geltendes Bundesrecht bewusst aussetzt, entzieht dem Schutzniveau für die Bevölkerung seine rechtliche Substanz.

Wenn die Landesaufsicht versagt – und der Bund übernehmen muss

Nach Jahren der Intervention, Gespräche und juristischen Analysen hat die BIG Konsequenzen gezogen: Eine vollständige Liste aller Flugbewegungen nach 23 Uhr im ersten Halbjahr wurde dem Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) übermittelt. Damit ist der Fall nun offiziell auf Bundesebene – ein Schritt, der aus Sicht des Umweltverbands unausweichlich war.

Die Zahlen, die die BIG dokumentiert, sprechen für sich: 319 registrierte Flugbewegungen nach 23 Uhr in nur sechs Monaten, neun davon nach Mitternacht. Das übersteigt das Vorjahresniveau und liegt nur knapp unter dem bisherigen Höchstwert aus dem Jahr 2019 – trotz weiterhin reduzierter Gesamtflugzahlen. Dabei ist klar: In der Mehrheit dieser Fälle fehlt ein nachprüfbarer Nachweis der Unvermeidbarkeit. Die behördliche Kontrollpflicht – ein zentrales Element des Schutzsystems – wurde faktisch abgeschafft.

Und die Reaktion der Politik und Behörden? Schweigen oder Abwiegeln. Unsere Schreiben an die Fraktionsvorsitzenden und deren politischen Vertreter:innen in der Allianz bleiben unbeantwortet. Die zuständige Wirtschaftssenatorin verweist lamentoartig auf externe Ursachen wie Wetter und Luftraumüberlastung, überbetont wirtschaftliche Standortinteressen – und blendet dabei aus, dass das Luftverkehrsrecht auch einen klaren Gesundheitsschutz vorsieht. Und die neue Umweltsenatorin scheint noch nicht wirklich in ihrem Amt angekommen zu sein – ihre Repräsentationspflichten als 2. Bürgermeisterin erscheinen wichtiger. Die Landesluftfahrtbehörde agiert nicht mehr als Reguliererin, sondern als Erfüllungsgehilfin wirtschaftlicher Betriebsinteressen. Das ist kein Schutzversäumnis mehr, sondern institutionelle Rechtsverweigerung.

Was jetzt notwendig ist – und was nicht mehr reicht

Die Situation ist nicht mit kosmetischen Korrekturen zu lösen. Was es braucht, ist eine vollständige Neufassung der Verspätungsregelung: rechtsklar, kontrollfähig und rückgebunden an das Schutzprinzip. Unvermeidbarkeit muss definiert, Kontrollpflichten gesetzlich verankert, Verfahren transparent dokumentiert und für Bürger*innen überprüfbar werden. Es braucht wieder eine Behördenpraxis, die sich am Gesetz orientiert – nicht am Betriebsinteresse.

Zugleich muss der Bund die Aufsichtsfunktion gegenüber den Ländern ernster nehmen. Das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung muss – wenn erforderlich – Missstände öffentlich machen, Verstöße ahnden und die Länder zur Umsetzung des geltenden Rechts anhalten. Rechtsstaatlichkeit darf nicht enden, wo wirtschaftliche Interessen beginnen.

Martin Mosel, Vorsitzender der BIG, bringt es auf den Punkt:


„Wenn Kontrolle abgeschafft, Nachweise ignoriert und Verstöße geduldet werden, ist Fluglärmschutz nur noch Fassade – aber kein Schutz.“


Und die Allianz? Ein Format zwischen Restfunktion und Blockade

Während sich der institutionelle Fluglärmschutz zunehmend als wirkungslos entpuppt, halten einige verbliebene Akteur:innen weiterhin an der „Allianz für den Fluglärmschutz“ fest. Das ist ihr gutes Recht – doch es ist auch Teil des Problems. Denn mit dem Verbleib in einem längst entkernten Beteiligungsformat wird ein Anschein politischer Legitimität aufrechterhalten, der der realen Schutzwirkung nicht mehr entspricht.

So verständlich die individuelle Motivation sein mag – die Allianz ist nicht reformierbar, sie wird politisch verwaltet und administrativ entleert. Wer sie heute noch stützt, mag auf Einfluss hoffen, trägt aber auch Mitverantwortung dafür, dass ein glaubwürdiger zivilgesellschaftlicher Neuanfang blockiert bleibt. Die notwendige Erneuerung der Bewegung gegen nächtlichen Fluglärm braucht nicht Formalbindung, sondern Konsequenz.

Die zehn Jahre der Allianz enden nicht mit einem Jubiläum. Sie enden mit einer Zäsur – und hoffentlich dem Anfang einer rechtstaatlichen Korrektur.

Mehr zum Thema:

„Dialog darf kein Ersatz für Handeln sein“ – BIG Fluglärm und weitere Initiativen verlassen die Allianz für den Fluglärmschutz

Die Allianz schweigt – andere sprechen: Kritik an wirkungslosen Beteiligungsformaten kein Einzelfall

Genehmigungslücken und gezielte Ablenkung – Hamburgs Nachtflugproblem eskaliert

Vor 10 Jahren: Erstes Treffen der Allianz für Fluglärmschutz