„Alternative Fakten“ im Luftverkehr

Von Dr. Horst Bröhl-Kerner

Grosse Vorbilder machen es vor, und auch die deutsche Luft­verkehrs­wirt­schaft sieht sich genötigt, mit kommuni­kativen Ausweich­manövern ihre Forde­rungen vorzu­tragen, selbst wenn die eigens dafür beauf­tragten Gutachten andere Fakten präsen­tieren.

Aktu­elles Bei­spiel ist der Gemein­same Appell, den „die deutschen Luft­fahrt- und Tourismus­verbände, Industrie und Gewerk­schaften … an die Verhand­lungs­partner der neuen Bundes­regierung“ vor ein paar Tagen gerichtet haben (in einer Lang- und in einer ein­seitigen Kurz­fassung). Die wich­tigste Forde­rung, wie schon seit Monaten: „Standort­kosten senken“.

Gleich­zeitig hat das „Deutsche Zentrum für Luft- und Raum­fahrt“ DLR ein vom Bundes­verkehrs­minis­terium beauf­tragtes Gut­achten vorge­legt, das eben­falls die „Standort­kosten“ im Titel trägt und  „Maß­nahmen zur Stär­kung des Luft­verkehrs­stand­ortes Deutsch­land“ zusammen­stellt.
Der zustän­dige Staats­sekretär erklärt dazu: „Deutsch­land ist als Export­nation auf eine gute Anbin­dung an die Welt ange­wiesen und der Luft­verkehr ist ein wich­tiger Wirt­schafts­faktor. … Das Gutachten identi­fiziert wichtige Stell­schrauben, um die Branche zu ent­lasten und den Luft­verkehr spürbar anzu­kurbeln. … Wir werden die Ergeb­nisse inten­siv mit den Ländern beraten und einer neuen Bundes­regierung Vor­schläge für wirk­same Maß­nahmen zur Stär­kung des Stand­orts unter­breiten.“

Einer der Appel­lanten, der Flug­hafen-Dach­verband ADV, bewertet das Gut­achten in einer Presse­mittei­lung “ als wei­te­ren Beleg, dass die künf­tige Bun­des­re­gie­rung die hohen regu­la­ti­ven Belas­tun­gen durch Luft­ver­kehr­steuer und Gebüh­ren absen­ken sollte“, denn es „bestä­tigt: Zu hohe regu­la­tive staat­li­che Stand­ort­kos­ten belas­ten den Flug­ha­fen­stand­ort Deutsch­land in sei­ner Wett­be­werbs­fä­hig­keit. In der Folge redu­zie­ren Air­lines ihr Flug­an­ge­bot. …“, und der Hauptgeschäftsführer legt noch einmal nach: „Die Ana­lyse des Gut­ach­tens ist ein­deu­tig. Die Wett­be­werbs­si­tua­tion der deut­schen Flug­hä­fen wird ins­be­son­dere durch die aus­ufern­den Steu­ern und Gebüh­ren belas­tet.“
Die Präsi­dentin dieses Vereins darf in ihrer Funktion als Chefin des Berliner BER mit Bezug auf das Gutachten öffent­lich jammern„Wir können nicht mehr. Es funktio­niert nicht mehr“. Das kleine Problem dabei: das Gutachten stützt diese Aus­sagen nicht.

Ganz im Gegen­teil kommt es zu ganz ähn­lichen Aussagen wie eine andere Analyse, die zu Jahres­beginn vorge­legt wurde. Während dort der Anteil der Stand­ort­kosten am „Nach­frage­verlust“ auf 7 Prozent bezif­fert wurde (1,1 Prozent von insge­samt 16 Prozent), geht das Gutachten von 9 Prozent aus.

Es ist aller­dings erhellend, sich die Details der Her­leitung dieses Werts anzu­schauen. Das Gutachten legt zwei Abschät­zungen vor, die auf 3,2 Prozent bzw. 10,6 Prozent Anteil kommen. Und weiter heisst es ganz unschul­dig: „Die Fest­legung auf ein geeig­netes Referenz­szenario ist jedoch Unsicher­heiten unter­worfen. Anstatt … den Mittel­wert aus 10,6 Prozent und 3,2 Prozent zu bilden [was ziem­lich genau 7 Prozent ergäbe], wird deshalb ange­nommen, dass sich 9 Prozent der schwachen inner­europä­ischen Luft­verkehrs­entwick­lung ab Deutsch­land durch die gestie­genen Standort­kosten erklären lassen … . Hierdurch soll vermieden werden, dass der Effekt der Standort­kosten unter­schätzt wird.“ Solche Sätze machen deutlich, was von den Zahlen­spiele­reien in diesem Gutachten zu halten ist.
Aber abge­sehen von den Zahlen­werten stimmen die Kern­aussagen mit anderen Analysen überein: Haupt­gründe für das (nur angeb­lich zu geringe) Wachstum sind die Markt­macht der Luft­hansa und fehlende Flug­zeuge und Personal.

Neben einigen zweifel­haften Methoden des Gut­achtens (für Insider: „deskrip­tive“ und „ökonome­trische“ Analysen) fällt insbe­sondere die extreme Borniert­heit auf, mit der die Aufgaben­stellung ange­gangen wird. Es wird alles aufge­zählt, was „den Luft­verkehrs­standort stärken“, d.h. die Zahl der Passa­giere und der Flug­bewe­gungen erhöhen könnte, ohne auch nur mit einem Wort auf die mög­lichen gesund­heit­lichen und ökolo­gischen Folgen dieser Maß­nahmen und die daraus ggf. sich ergebenden kontra­produk­tiven Konse­quenzen einzu­gehen.
So gehören Dinge wie „eine flexib­lere Flug­hafen­nutzung in Nacht- und Rand­stunden“„eine Redu­zierung wei­terer künst­licher Kapa­zitäts­restrik­tionen“ und „schnel­lere Geneh­migungs­ver­fahren“ ganz selbst­verständ­lich auch zu den empfoh­lenen Maß­nahmen, auch wenn immer neue Gutachten die unver­meid­lichen gesund­heit­lichen Schäden durch Flug­lärm, stei­gende Schad­stoff-Belas­tungen etc. (und deren ökono­mische Konse­quenzen) nach­weisen. Von den Klima­wirkungen des Luft­verkehrs und deren Folgen ist erst recht nicht die Rede.

Damit passt dieses Gutachten aber ganz hervor­ragend als Input für eine anstehende Diskus­sion im Bundes­rat, in der auch die jüngste Initi­ative der hessi­schen Landes­regie­rung zur Luft­verkehrs­politik behan­delt werden kann, die viele Forderungen aus dem Appell schon vorweg nimmt.
Dabei stört es auch nicht, dass es Teile und Empfeh­lungen enthält, die nicht von allen Unter­zeichnern des Appells mitge­tragen werden können. So wird die Luft­hansa sicher nicht für die „Präsenz neuer Anbieter und Allianzen“ im deutschen Luft­verkehr eintreten wollen. Aber da es inzwi­schen Standard ist, dass jeder ein solches Gutachten zur Unter­stützung seiner Forde­rungen heran­ziehen kann, selbst wenn das Gegen­teil davon drin­steht, gibt es kein Problem. Was die Politik wirklich durch­setzen soll, steht ja in dem gemein­samen Appell, und damit können alle leben.

Bedauer­licher­weise ist ein derar­tiger Umgang mit Fakten in den Ausein­ander­setzungen um den Luft­verkehr nicht die Ausnahme, sondern schon seit langem die Regel. Äusse­rungen aus der Luft­verkehrs­wirt­schaft zu strit­tigen Sach­verhalten zeigen so gut wie nie das voll­ständige Bild. Soweit es sich um Beiträge von Lobby­isten zu Fragen wie Lärm, Schad­stoff-Belas­tung, Klima­gefähr­dung o.ä. handelt (und zu Lobby­ist*innen zählen neben den Verbands­funktio­när*innen auch die Presse­stellen und Chef­etagen der Konzerne), stellt sich in der Regel nur die Frage: handelt es sich zumin­dest in einigen Aus­sagen noch um Teil­wahr­heiten, oder ist es voll­ständig gelogen?
In der Luft­verkehrs­politik sieht es natür­lich nicht besser aus. Dass das Ver­trauen grosser Teile der Bevölke­rung in die Politik immer neue Tiefst­stände annimmt, liegt eben nicht nur an der Hetze in Sozialen Medien oder an Stamm­tischen, sondern daran, dass Politi­ker*innen im günstig­sten Fall das Lobby­isten-Geschwätz unge­prüft über­nehmen, im schlimmsten Fall aber aus ideo­logischen Gründen noch eigene Lügen drauf­setzen (was natür­lich auch für vorgeb­liche Alter­nativen gelten kann, s. die AfD im Landtag). Die wenigen fach­lich-kriti­schen Stimmen, die es noch gibt, gehen in aller Regel im Lobby-Geschrei unter.
Selbst amtlichen Aus­sagen ist häufig nicht zu trauen, wie zahl­reiche Beispiele aus der Luft­aufsicht und der Umwelt­über­wachung in Hessen, die wir in den letzten Jahren gesam­melt haben, belegen.

Das liegt nicht zuletzt auch an den Medien, die ganz über­wiegend weder willens noch in der Lage sind, die ihnen vorge­setzten Informa­tionen selbst kritisch zu hinter­fragen oder wenig­stens kritische Stimmen ange­messen zu Wort kommen zu lassen. Anders als bei den dreisten Lügen der Trump-Riege, die häufig durch blossen Augen­schein zu erkennen sind, handelt es sich bei den Streit­fragen hier in der Regel um kom­plexere Sach­verhalte, die ohne eine gewisse Einar­beitung nicht zu ver­stehen, geschweige denn zu bewerten und verständ­lich darzu­stellen sind. Für gründ­liche Recherche zu Themen, die gerade nicht „in“ sind und nur eine begrenzte Zahl von Menschen betreffen, fehlen aber offenbar die nötigen Ressourcen.
Schon zu Zeiten der Ausein­ander­setzungen um den Bau der Start­bahn West oder den Ausbau der Kern­energie, in denen auf Befür­worter-Seite auch jeweils schon massiv gelogen und betrogen wurde, gelang es nur par­tiell, ausrei­chend Gegen­öffent­lichkeit herzu­stellen, obwohl dort starke Gegen­bewe­gungen exis­tierten, in denen sehr viele Leute sehr viel Zeit und Energie dafür aufge­bracht haben. Heute steht zwar mit den zuneh­menden Gesund­heits­schäden und der begin­nenden Klima-Kata­strophe noch mehr auf dem Spiel, und die Gegen­argumente sind noch stärker, aber die Bewe­gungen zu schwach, sie zur Wirkung zu bringen.

Dr. Horst Bröhl-Kerner ist Sprecher der Bürgerinitiative gegen Fluglärm Raunheim. Seit den 1980er Jahren engagiert er sich gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Der promovierte Naturwissenschaftler arbeitete u. a. zu Klima- und Umweltthemen sowie als Lobbyist für soziale Netzwerke in Berlin und Brüssel.

https://www.bi-fluglaerm-raunheim.de/

Bleibt noch die traurige Tatsache zu kommen­tieren, dass unter dem eingangs zitierten Lobby-Pamphlet auch die Unter­schriften von zwei hoch­rangigen Gewerk­schafts­funktio­nären, stell­vertre­tende Vorsit­zende von IG Metall und ver.di, stehen.

Natür­lich passt das nicht zu dem Diskus­sions­stand, der in beiden Gewerk­schaften über die grund­sätz­liche Not­wendig­keit einer sozial-ökolo­gischen Trans­forma­tion hin zu einer sozia­leren und klima­schützenden Wirt­schafts- und Gesellschafts­ordnung bereits erreicht ist. Es macht aber deut­lich, dass die Gewerk­schaften hierzu­lande und heut­zutage nicht die­jenigen sind, die eine solche Trans­formation voran­treiben oder ein­fordern können. Sie sind darin gefangen, die kurz­fristigen ökono­mischen Inter­essen ihrer Mit­glieder zu vertei­digen. Und solange für einen Sektor keine realis­tischen Wege und Mehr­heiten für einen Übergang in eine sozialere Zukunft absehbar sind, werden sie auch einen schlechten Status quo vertei­digen, wenn er zumin­dest Arbeits­plätze und einiger­maßen auskömm­liche Löhne zu erhalten verspricht.

Wenn die Bewegung für eine sozial-ökolo­gische Wende die Gewerk­schaften als Bündnis­partner gewinnen will, wird sie erstens sehr viel stärker werden müssen, und zweitens über­zeugende Konzepte dafür vor­legen müssen, wie ein solcher Wandel sozial gestaltet werden kann. Der Flug­verkehr muss schrumpfen – aber die heute dort Beschäf­tigten brauchen eine Perspek­tive, die ihren sozialen Status mindes­tens sichern, womöglich sogar verbes­sern kann.